“Ich blicke mit Entsetzen und Schaudern auf den 13. März zurück, als Hitler beim Läuten unserer Totenglocken mit einem Heeresaufgebot, das für die größte Schlacht gereicht hätte, in unser liebes Wien einzog. Die Straßen waren mit deutschem Militär und deutscher Polizei mit überkreuzten Händen abgesperrt, und all der Jubel war aus dem Reich bestellt. Alle Kloaken der menschlichen Gesellschaft öffneten sich, und es kam ein grauenvolles Untermenschentum in schwarzen SS-Uniformen zum Vorschein. Individuen, die man nicht mit der Feuerzange angerührt hätte, wurden auf die verschreckten Bürger, namentlich Juden, losgelassen. Sie drangen in die Häuser und Cottage-Villen ein unter dem Vorwand, nach versteckten Waffen zu suchen, und stahlen und raubten alles, was ihnen in die Hände kam. Am 12. März hatten wir noch alles in Hülle und Fülle: Man konnte fünfzig Kilo Kaffee, hundert Kilo Mehl, Eier, Butter, Geflügel etc. kaufen.1 Am 14. März fuhren Lastwagen der SS auf und plünderten die Geschäfte mit einer Selbstverständlichkeit und entrüsteter Miene, dass dieser oder jener noch dieses oder jenes besaß. Am 14. nachmittags war nichts mehr da, und wer nicht etwaige Vorräte daheim hatte, konnte zusehen, wie er weiterkommt. Am 15. ist der übliche Fürsorgeküche-Wagen aufgefahren, um die armen, “verhungerten” Wiener mit einem Süppchen zu betreuen, das sich die armen Wiener aus Neugierde abholten und dann unter Lachen wegschütteten. Am Radio wurde man mit Fürsorge- und Betreuungsaktionen gefüttert, dass einem schlecht wurde.
So fing es an: Zügellos tobte sich der braune Satanshaufen aus. Alle Autos wurden auf der Straße konfisziert, auch das meine, und mein Chauffeur musste den ganzen Tag verhaftete arme Menschen nach der Polizeidirektion führen, wo sie geschlagen, gequält und in unmenschlichster Weise diffamiert wurden. Mein Auto habe ich auf energische Proteste hin sofort wieder zurückbekommen. Unter den Verhafteten befand sich auch der Onkel Ernst, der, wie Du weißt, ein wirklich braver, anständiger Rechtsanwalt ist – von einer Anständigkeit, die schon ans Pathologische grenzt! Durch meine Beziehungen und Stellung in Wien ist es mir gelungen, ihn in letzter Stunde aus dem Gefängnis herauszubekommen, noch ehe er mit einem Schub Unglücklicher nach Dachau gebracht werden sollte…” schrieb am 8. Mai 1938 der Opernsänger und Filmschauspieler Leo Slezak an seinen in den USA lebenden Sohn Walter. “Hie und da kommt es zu ergötzlichen Szenen, unter anderem vor ein paar Tagen in der Fleischmarkthalle, wo ein paar solche SS-Lausbuben sich aufspielten. Da kamen ein paar riesenstarke Metzger über diese schwarzen Banditen und schlugen sie halbtot. Nachdem sie mit dem Rettungsauto weggeführt waren, kam erst unsere Wiener Polizei und verwarnte die Metzger, dass es nicht erlaubt sei, die Herren SS zu dreschen… Gauleiter Bürckel, unser oberster Staatschef, hat einen Erlass herausgegeben, dass jeder, der sich Übergriffe zuschulden kommen lässt, strenge bestraft wird. Also das scheint geholfen zu haben; es ist wesentlich ruhiger geworden und wird weniger geplündert, „ berichtete Slezak am 14. Mai 1938.2
Manchen Künstlern kam der Anschluss allerdings nicht gerade unwillkommen. Wie in der gesamten österreichischen Gesellschaft gab es auch unter den Künstlern jene, die den Weg zum Heldenplatz – wo eine große Kundgebung begeisterter Anhänger des Nationalsozialismus veranstaltet wurde – fanden und jene, die tief deprimiert zu Hause blieben oder die sich zur Emigration vorbereiteten bzw. sogar schon unterwegs waren. Die im Künstlerhaus residierende Genossenschaft war keineswegs die treibende Kraft einer Nationalisierung, wie später von ihren Gegnern gerne behauptet wurde. Ja im Gegenteil: viele der gesetzlichen, also von oben her dem Künstlerhaus aufgezwungenen Regelungen wurden hier erst mit bemerkenswerter Verspätung ein- bzw. durchgeführt.
Bis zum Anschluss hatte man in Wien außerdem allgemein nur wage Vorstellungen über die deutsch-nationalsozialistische Gesetzgebung und über die wahren Zustände im Deutschen Reich überhaupt.3 Ab der Machtübernahme Hitlers waren erst fünf Jahre vergangen; was man in Deutschland sah, war das Aufatmen und der strahlende wirtschaftliche Aufschwung im Gegensatz zur anhaltenden Nachkriegsnot und Rezession in Österreich. Über die Grenzen spürte man den aufgeweckten Optimismus des deutschen Volkes, den Glanz der starken Staatsführung, die neue Ordnung statt eines deprimierenden Chaos; die frische jugendliche Begeisterung breiter Schichten, die neuen Arbeitsmöglichkeiten, die großzügige Förderung der schönen Kunst, die Großbauten, die ungeahnten Kunstaufträge der neuen Kulturstellen und ähnliches mehr. Ähnliche oberflächlich sichtbare Erfolge präsentierte in ihrer Propaganda auch die Sowjetunion, doch die war den meisten Österreichern weit, asiatisch fremd und man stand der Diktatur des Proletariats allgemein doch – bis auf einige wenige Verblendete des Jahres 1934 – äußerst skeptisch gegenüber. Dazu kamen gerade in diesen Monaten Berichte über Stalins Schauprozesse und vollstreckte Todesurteile, die man überhaupt nicht verstand. So waren auch die meisten der alten österreichischen Sozialdemokraten in den Jahren 1934-1938 dem Nationalsozialismus als dem Bolschewismus.4
Zu den vom Glanz des Nationalsozialismus beeindruckten Künstlern gehörte auch Architekt Marcel Kammerer, der in der Nummer 32 des “Nachrichtenblattes des Zentralverbandes bildender Künstler Österreichs zur Wahrung ihrer Standes- und Wirtschaftsinteressen” (mit Sitz in der Secession) vom Oktober/Dezember 1936 über die neue deutsche Reichskammer der bildenden Künste berichtete.
Die von den Nationalsozialisten geschaffene5 “Reichskammer der bildenden Künste” war nur eine der sieben Körperschaften, die zusammen die Reichskulturkammer bildeten. Ihr Zweck und Sinn lag nicht in einer Förderung irgendwelcher Kunst, sondern es ging darum, die Auswirkungen der künstlerischen Produktion “in der Erkenntnis und Wertung dieser als wichtigsten geistigen und seelischen Bildungsfaktors des deutschen Volkes zu überwachen und zu beeinflussen”. Die bisher private Tätigkeit einsam schaffender Künstler wurde also zu einer öffentlichen und verantwortungsvollen emporgehoben.
Man konnte für die Öffentlichkeit nur dann künstlerisch schaffen, “wenn diese Werke aus einem gesunden naturverbundenen Empfinden und dem Wesen des eigenen Volkes entspringen und von einem gründlichen handwerklichen Können Zeugnis geben”. Das Kammergesetz sorgte dafür, dass nicht jeder und alles auf das “wehrlose Volk losgelassen werden” konnte, wie es vorher auch in Deutschland der Fall war. Dieses Reglement beeindruckte viele akademisch ausgebildete Künstler, schon aus Brotneid.
Die Eingliederung der künstlerischen Tätigkeit in das nationale Gesamtschaffen lag in der Konsequenz des nationalsozialistischen – aber auch kommunistischen – Denkens. Jeder, der künstlerisch schöpferisch war und Produkte seines Schaffens auch absetzen wollte, musste Mitglied einer Kammer sein. Dadurch wurde ein Berufsschutz geschaffen, von dem die Österreicher am meisten fasziniert waren. In Deutschland unterschied man eindeutig zwischen Künstlern und “Pfuschern”, man wollte kein Künstlerproletariat.6
Die Aufnahme in die Kammer konnte abgelehnt werden, “wenn die in Frage kommende Person die, für die Ausübung ihrer Tätigkeit erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung nicht besitzt”. Mit welchen Kriterien dies bemessen wurde, schrieb Marcel Kammerer damals allerdings nicht – vielleicht wusste er es auch nicht.
Präsident der Reichskulturkammer war stets der jeweilige Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda. Er ernannte die Präsidenten der Einzelkammern: der bildenden Künste, Musik, Theater, Schrifttum, Presse, Rundfunk und Film. Zum Schutz des Berufes und der Berufsausübung wurden weitgehende Anordnungen erlassen, denen eines gemeinsam war: das Vorherrschen des kulturellen Moments vor dem wirtschaftlichen. Aber es gab auch eine Honorarordnung für bildende Künstler mit Mindestsätzen. Auch das wirkte in Wien imponierend.
Abgesehen von einer Anfrage an die Aussteller der Frühjahrsausstellung 1938 vom 19. März hat man sich im Künstlerhaus nach dem Anschluss mit der deutschen Gesetzgebung und dem erst dieser Tage bekannt gewordenen, mit der Kunst nichts zu tun habenden sogenannten “Arierparagraphen” allerdings nicht beschäftigt. Die bestehenden Mitgliedschaften blieben weiterhin aufrecht, nur bei den Neuaufnahmen wollte man allgemein vorsichtiger vorgehen und von nun an neben der Kunstausbildung auch nach der Abstammung des Bewerbers fragen.
Die Künstlerhaus-Mitteilungen sprachen über den Arierparagraphen zum ersten Mal im Postskriptum(!) am 1. April 1938: “Nach dem Reichskunstkammer-Gesetz ist in Österreich der Arierparagraph in Geltung getreten. Für jene Mitglieder, die nicht Arier sind, wird eine Klärung ihres Verhältnisses im Zuge der Eingliederung der Künstler in die Reichskunstkammer erfolgen.” Das war alles.
Man sah nach wie vor, noch viele Wochen lang, keinen Grund zur Demission des im Vorjahr gewählten Leitenden Ausschusses und auch keinen zu irgendwelchem Vorgehen gegen die „nichtarischen“ Kollegen. Dem von sich aus selbst austretenden außerordentlichen Mitglied Rechtsanwalt Dr. Alfred Lederer wurde für seine Verdienste um das Künstlerhaus schriftlich gedankt, ebenso wurde der Austritt des Kommerzialrates Sigmund Rosenbaum ausdrücklich mit Bedauern entgegengenommen. Als Ende April 1938 Aufforderungen zum Bezahlen des Jahresbeitrags für 1938 an alle Mitglieder verschickt wurden, fragte der achtzigjährige Architekt Friedrich Schön in seinem Brief vom 26. April, ob er sich “noch als ordentliches Mitglied der Genossenschaft” betrachten kann.7 Die Antwort der Künstlerhausleitung vom 5. Mai 1938, unterschrieben von Leopold Blauensteiner und beginnend mit der Anrede “Sehr geehrter Herr Kollege” lautete dahingehend, dass die Frage der ordentlichen Mitgliedschaften erst im Zuge der Aufstellung der Reichskunstkammer im Land Österreich entschieden wird. Damit wiederholte Blauensteiner nur die bereits erwähnten Sätze in den hauseigenen Mitteilungen.
So wurden auch alle Mitglieder zu der außerordentlichen Hauptversammlung am 7. April 1938 eingeladen; “besonders erwartet” wurde aber doch das “pünktliche Erscheinen aller in Wien befindlichen arischer Mitglieder”.8 Dieser Hauptversammlung ging eine feierliche Kundgebung voran, in der die Liebe und Treue zu Adolf Hitler und dem Volk von etwa hundert anwesenden Mitgliedern beteuert wurde. Das war aber schon fünf Tage nach einer ähnlichen Kundgebung des Zentralverbandes bildender Künstler Österreichs und zwei Wochen nach einer ähnlichen Feier in der Secession.9
Den Hauptanlass zu dieser Kundgebung gab die bevorstehende Volksabstimmung über den Anschluss an das Deutsche Reich. Man fühlte im Künstlerhaus die Notwendigkeit eines politischen Zeichens, nachdem bis dahin in dieser Richtung nichts geschehen war. Redner bei der Kundgebung gab es nur zwei: der Präsident Leopold Blauensteiner und der Schriftsteller Erich August Mayer. Die Kundgebung schloss mit der alten Kaiserhymne10 von Haydn, die nun Deutschlandlied hieß, sowie dem neuen Horst-Wessel-Lied, worauf man zur normalen Tagesordnung überging. Über die Kundgebung informierte man die Presse in pathetischen Worten.11
Ab Ende April 1938 wurden direkte Nachrichten der Künstlervereinigungen an die Medien verboten. Alle Pressemitteilungen sollten über einen Bezirkspresseleiter dem Gaupresseamt vorgelegt werden, was natürlich zu unerwünschten Verzögerungen führte. Da man aber im Künstlerhaus noch aus der Republik persönliche Kontakte zu einigen Journalisten hatte, wusste man es sich zu richten und es gab diesbezüglich kaum Anstände.
Erst am 12. April 1938, also einen Monat nach dem Einmarsch deutscher Truppen, kam es zur offiziellen Demission des Leitenden Ausschusses. Grundlegende Änderungen hat sie nicht gebracht: Leopold Blauensteiner wurde am 26. April 1938 zum kommissarischen Leiter der Genossenschaft bestellt, der Vermögensberater, Schriftführer, Rechtsberater, Hausarchitekt und andere Ausschussmitglieder wurden in ihren Funktionen bestätigt. Im neuen Ausschuss fehlten die Vizepräsidenten Wilhelm Baumgarten und Karl Fiala. Baumgarten, der damals von den Konsequenzen des Arierparagraphen anscheinend immer noch keine Ahnung hatte, emigrierte später in die USA; Fiala wollte sich mehr seiner künstlerischen Tätigkeit widmen. Sonst gab es im Künstlerhaus auch weiterhin keine offensichtliche Diskriminierung oder sogar Verfolgung jüdischer Kollegen. Wie im Protokoll der Ausschusssitzung vom 24. Mai 1938 ausdrücklich festgehalten wurde, fehlte am Künstlerhaus nach wie vor die sonst bereits allgemein verbreitete Tafel “Arischer Betrieb”.
Auch mit der Präsentation der Führerbilder war man äußerst vorsichtig: man behandelte sie als Kunstwerke, was der Ausstellungskommission bzw. dem Leitenden Ausschuss die Möglichkeit gab, die damals aus dem “Altreich” ins Künstlerhaus kommenden Hitlerbüsten und Porträts aus künstlerischen Überlegungen abzulehnen.
Durch Verordnung über die Einführung der Reichskulturkammer-Gesetzgebung in Österreich vom 11. Juni 1938 (RGBl. 1, S. 624), waren das Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933 (RGBl. 1, S. 661), das Ergänzungsgesetz vom 15. Mai 1934 (RGBl. 1, S. 413) nebst den Durchführungsverordnungen nun auch in Österreich in Kraft getreten. Danach mussten alle Personen, die im Bereich der Reichskammer der bildenden Künste an der Erzeugung, der Wiedergabe, der geistigen oder technischen Verabreichung, der Verbreitung, der Erhaltung, dem Absatz oder der Vermittlung des Absatzes von Kulturgut mitwirkten, soweit es eine Schöpfung oder Leistung der Kunst war, um ihre Eingliederung in die Kammer ansuchen.
Am 9. August 1938 erschien in der Wiener Zeitung eine Reihe weiterer Verordnungen des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste Adolf Ziegler, wonach der Großteil der für das Deutsche Reich geltenden Bestimmungen nun auch auf Österreich ausgedehnt wurde. Die Pflicht jedes bildenden Künstlers, der Reichskammer anzugehören und für die Mitgliedschaft erforderlichen Voraussetzungen zu erfüllen, war bereits bekannt. Nun erschienen ergänzende Bestimmungen über den Abstammungsnachweis, die Gebührenordnung, Wettbewerbe, Ausstellungswesen, Kunstunterricht und den Kunsthandel.
Zur Veranstaltung jeder Ausstellung war von nun an die Bekanntgabe des Veranstalters und des Ausstellungsleiters notwendig, die für sie auch zur Verantwortung gezogen werden konnten. Jede Eröffnung bedurfte der ausdrücklichen Zustimmung des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste Adolf Ziegler in Berlin.12 Die Anträge waren an den Beauftragten der Kammer in Wien, Professor Leopold Blauensteiner zu richten. Der Veranstalter war verpflichtet Werke abzulehnen, deren Preise der Öffentlichkeit gegenüber nicht verantwortet werden konnten, oder er musste eine entsprechende Reduktion durchführen. Dagegen konnte er bei allzu bescheidenen Künstlern ihre Preise von sich selbst aus auf das entsprechende Niveau anheben. Einschneidend waren Bestimmungen über den Kunsthandel. Die Mitgliedschaft zur Kammer wurde nun eine Voraussetzung zur Ausübung des Kunst- und Antiquitätenhandels. Das führte zur Liquidation bzw. Notverkäufen zahlreicher alteingesessener Firmen.
Doch im Künstlerhaus selbst geschah diesbezüglich immer noch sehr wenig. War man mit den meisten Anordnungen der neuen Machthaber durchaus einverstanden, doch stieß der Arierparagraph nicht auf allgemeine Zustimmung. Gut herauslesbar ist diese Missbilligung aus den Briefen und Mitteilungen an die Mitglieder. Man wusste ja bis zum Anschluss allgemein kaum, wer von den Kollegen überhaupt ein Jude war und wer nicht. Erst die beginnenden Austritte, vor allem der Freunde, Teilnehmer, Förderer und der außerordentlichen Mitglieder brachten in Einzelfällen gewisse Klärungen. Unter Druck gesetzte Juden oder „Mischlinge“ deklarierten sich nach und nach selbst als solche. Der Stifter Otto Redlich wollte sein Porträt zurück haben und er bekam es am 6. September 1938 auch. Vizepräsident Architekt Wilhelm Baumgarten blieb bis zur Demission des gesamten Ausschusses am 12. April 1938 in Funktion und war bei den meisten Sitzungen anwesend. Die Demission erfolgte übrigens auf sein Drängen.
Die ersten hauseigenen “Mitteilungen”, die auf die neue politische Situation reagierten, erschienen am 21. März 1938; man fragte jedoch nicht nach der Abstammung jedes Einzelnen, sondern bat um Bekanntgabe der Mitgliedschaft bei der NSDAP. Bis zum 11. April 1938 meldeten sich 30 Parteigenossen; das waren 15 % der ordentlichen Mitgliedschaft – das Künstlerhaus verfügte damals insgesamt über etwa 200 ordentliche Mitglieder. Da am 16. März 1938 eine generelle Aufnahmesperre in die NSDAP verfügt worden war, handelte es sich entweder um die “alten Kämpfer”, die bereits vor 1933, dem Verbot der NSDAP in Österreich, zu der Partei gestoßen waren oder um deutsche Staatsbürger. Die sogenannten “Illegalen”, die den Nationalsozialismus erst nach dem Parteiverbot entdeckten und wegen der Stilllegung der offiziellen Parteiarbeit keine Gelegenheit mehr zum Erwerb der formellen Mitgliedschaft hatten, wurden später einheitlich unter dem Datum 1. Mai 1938 in die Partei aufgenommen.13
Da die Aufnahmesperre bis zum Dezember 1939 aufrecht blieb, konnten die sonstigen Interessenten nur als “Parteianwärter” bezeichnet werden. Die NSDAP verstand sich als Elite und wurde auch später im Gegensatz zu den kommunistischen Parteien des Ostblocks nicht offener. Ihr Höchststand durfte 20 % der gesamten Bevölkerung nicht überschreiten.
Die auf Künstler sich beziehende Anordnung über den Nachweis der Abstammung, in Berlin am 26. Mai 1936 erschienen, wurde ab August 1938 auch in Österreich gültig. Jeder, der der Reichskammer angehören wollte, musste einen Nachweis seiner Abstammung und zwar grundsätzlich bis zu den Großeltern bringen und das für sich und für seinen Ehepartner. Dazu gab es bei dem jeweils zuständigen Landesleiter genormte Formulare; Originalurkunden oder beglaubigte Abschriften waren beizulegen. Die Frist zur Erbringung dieses Abstammungsnachweises wurde in Österreich mit dem 31. Dezember 1938 festgesetzt.
Entstanden Zweifel über die rassenmäßige Abstammung eines oder mehrerer Großelternteile, so war der Landesleiter befugt, hinsichtlich der Vorahnen weitere Anforderungen zu stellen. Nach Prüfung der Richtigkeit der abgegebenen Erklärungen wurden die Originalurkunden dem Antragsteller zurückgegeben. Diese Anordnung, in ihrem ganzen Wortlaut in Wien am 9. August 1938 publiziert, verursachte bei manchen Mitgliedern böse Überraschungen, andere wurden auf ihre Abstammung aufmerksam und entdeckten ihr Interesse für Genealogie. Durch plötzliche Arbeit überhäuft wurden jedenfalls die Pfarrämter und Archive.
Die nationalsozialistische Gesetzgebung zog als Maßstab des Judentums die Religion heran, obwohl man gleichzeitig von den nationalsozialistischen Politikern hörte, dass Juden keine Religionsgemeinschaft, sondern eine “Rasse” wären. Ein Gesetz „zum Schutz des deutschen Blutes“ sollte die Mischung mit dem jüdischen Blut verhindern. Waren aber die Ahnen des Betreffenden ab den Großeltern bereits getauft, war alles in bester Ordnung. Anlässlich einer Anfrage des Kulturamtes der Stadt Pilsen den Maler Alfred Offner betreffend schrieb der damalige Direktor des Künstlerhauses in seiner Antwort: “Weitere Erkundigungen … ergeben allerdings die Vermutung, dass er wenn nicht Volljude, so doch Halbjude sein dürfte. Sein ganzes Gehaben soll jedenfalls der Art dieser Rasse entsprochen haben.” Das war der springende Punkt: das “Gehabe” jedes einzelnen, seine Denkweise, sein zur Schau getragenes Benehmen.14
Die Anerkennung durch die Reichskammer war die Voraussetzung zur Mitgliedschaft in der Genossenschaft. Der Leitende Ausschuss bzw. jetzt die kommissarische Leitung des Künstlerhauses tat sich hier schwer, da die Mitglieder nur langsam im Stande waren, die nun von ihnen plötzlich verlangten Dokumente zu sammeln. Zum 20. September 1938 gab es 36 ordentliche Mitglieder, die die sogenannte „graue Karte“ der Reichskunstkammer nicht besaßen, was aber nicht hieß, dass es sich nur um Juden handelte. Es gab auch Künstler im Ausland wie Erich Wagner oder Ludwig H. Jungnickel. Einfacher hatten es die finanziell besser gestellten Kunstfreunde, die das Künstlerhaus nicht brauchten und einfach austraten, wie etwa Franz Josef Fürst Auersperg oder der Industrielle Stephan Rath.
Am 20. September 1938 beschloss die kommissarische Leitung, die Mitglieder, welche die „graue Karte“ bis dahin nicht vorgelegt hatten, aus der Adressenkartei zu entfernen. Diese Maßnahme war keine definitive; viele Künstler brachten die Karte später, bei einigen entstanden wiederum nachträglich Zweifel, bei manchen blieb ihr Status überhaupt unklar. Am 20. September 1938 wurden folgende Künstler aus der Adressenkartei entfernt:
Angerhofer Robert
Artmann Emil
Baumgarten Wilhelm
Blaas Carl Theodor
Böhm Gustav
Delitz Leo
Dobner Josef
Eichhorn Leo B.
Ferraris Arthur
Fischel Paul
Floderer Anton
Gotthilf Ernst
Graner Ernst
Grünhut Josef
Gsur Karl F.
Haselböck Karl
Heller Hermann
Herschel Otto
Illitsch Alexander
Kaiser Max
Kauffungen Richard
Krausz Wilhelm Viktor
Lewandowski Stanislaus
Probst Erich
Rauchinger Heinrich
Reichl Fritz
Riss Egon
Scharf Viktor
Schilhab Josef
Schön Friedrich
Scholz Karl
Stössel Oskar
Strasser Roland
Weber Anton
Technisch ging dieser Vorgang so vor sich, dass man das Evidenzblatt (Biographie) des Betroffenen aus einem Ordner in einen anderen gab. In dem noch aus den Zeiten der Monarchie stammenden, handschriftlich geführten Gesamtverzeichnis aller Mitglieder, der sogenannten “Bibel”, wurde der Name des Betroffenen nicht gestrichen – so kann man eigentlich auch nicht von einer “Streichung” sprechen. Diese “Bibel”, ein dickes in Leder gebundenes Buch, wird bis heute im Sekretariat verwendet und immer noch durch neue Mitgliederaufnahmen ergänzt. Keineswegs wurden 1938 die nichtarischen Mitglieder aus dem Künstlerhaus “ausgeschlossen”, wie immer wieder, sogar in der Fachliteratur gerne behauptet wird. Eher könnte man von einer “ruhenden” Mitgliedschaft sprechen, die jedoch bis zum Mai 1945 tatsächlich als nicht vorhanden angesehen wurde.
Bis zur nächsten Sitzung am 28. September 1938 kam die Austrittserklärung des Architekten Dr. Emil Artmann, den man jedoch nicht verlieren wollte und diesbezüglich den Maler Josef Straka um Vermittlung ersuchte. Karl F. Gsur und Ernst Graner hatten inzwischen die graue Karte der RKK inzwischen gebracht. Sepp Dobner, Alexander Illitsch und manch andere folgte später; am 18. Oktober 1938 Karl Scholz. Ihre Evidenzblätter wurden wieder aus dem zweiten in den ersten Ordner eingereiht. Eindeutig spielten hier, wie auch sonst im Leben, persönliche Beziehungen die entscheidende Rolle und eben das bereits zitierte “Gehabe”. Von einem kontaktarmen oder arroganten Künstler trennte man sich rascher, als von einer allgemein beliebten Persönlichkeit. Im Großen und Ganzen musste sich aber auch die Genossenschaft der nationalsozialistischen Gesetzgebung beugen.15
Anton Weber wurde in der Kartei aus Achtung vor seinem hohen Alter (* 3.12.1858) belassen, er übte seinen Beruf ohnehin seit Jahren nicht mehr aus. 1940 wurde ihm im Auftrag des Landesleiters der Reichskunstkammer Blauensteiner zu seinem 82. Geburtstag besonders herzlich gratuliert.
Als dem im Ausland befindlichen Maler Ludwig H. Jungnickel sein unbewohnt stehendes Atelier durch die Gemeinde Wien beschlagnahmt wurde, ließen Blauensteiner und der neue kommissarische Leiter des Künstlerhauses, Rudolf Hermann Eisenmenger seine Werke ins Künstlerhaus bringen und dort einlagern.16
Anton Kolig blieb während des ganzen Krieges seine Mitgliedsbeiträge im Künstlerhaus schuldig, trotzdem wurde er “über Auftrag d. H. Präs. Eisenmenger” nicht gemahnt.
Die Neue Galerie von Otto Nirenstein-Kallir in der Grünangergasse 1 wurde mit Wissen Blauensteiners seiner Sekretärin Dr. Viktoria Künstler überschrieben. Damit wurde die nationalsozialistische Vermögensverkehrsstelle durch ein Scheinmanöver umgangen und der Weiterbestand der Galerie ermöglicht.17
Rudolf H. Eisenmenger überwies dem „jüdisch versippten“, arbeitslosen und kränklichen Bildhauer Ernst Hegenbarth bis zu dessen Tod auf dem Umweg über den Künstler-Wohlfahrtsfond einen Teil seiner monatlichen Präsidentenpauschale.
Leopold Blauensteiner ging sogar so weit, dass er Empfehlungsschreiben für die sich zur Emigration vorbereitenden Künstler schrieb, wobei es sich nicht nur um Künstlerhaus-Mitglieder handeln musste: Paul Königsberger wurden in zwei Briefen, am 14. Oktober 1938 an eine Intellektuellenliga in Stockholm und am 25. Oktober 1938 nach London, seine künstlerischen und handwerklichen Qualitäten bestätigt, ebenso sein einwandfreier Ruf und Charakter.18
In manchen Fällen konnte man den Betroffenen vom Künstlerhaus aus direkt nicht mehr helfen; trotzdem erlaubte man sich da und dort noch manche Demonstration. Als Richard Kauffungen 1942 in der Schweiz starb, verschickte Eisenmenger in seinem und im Namen des Künstlerhauses Partezettel mit der Bekanntgabe vom Ableben Kauffungens. Den Nachruf, den man der Presse zugeschickt hatte, wurde am 15. Oktober 1942 auch im Völkischen Beobachter abgedruckt. Kauffungen wurde 1938 in die RKK nicht aufgenommen – anscheinend suchte er darum aber selbst gar nicht an, er war immerhin schon 84 Jahre alt – und musste also aus dem Künstlerhaus ausscheiden. Um diese Zeit baute sein Sohn das Wohnhaus in Solothurm, wo er schon seit Jahrzehnten als Chemiker lebte, aus; möglicherweise dachte nun der 1932 verwitwete Richard Kauffungen an eine Übersiedlung zu ihm. Am 25.11.1940 verkaufte er sein Haus in Rodaun, Kaisersteiggasse 4, und verließ das einstige Österreich am 7. Dezember 1940 anscheinend ungehindert. Einige Wochen später folgte das Übersiedlungsgut sogar mit Teilen seiner Ateliereinrichtung. Schöpferisch tätig war Kauffungen bis zu seinem Lebensende.19
In der Sitzung der kommissarischen Leitung vom 13. Oktober 1938 wurde eine Zusammenfassung aller Veränderungen seit März 1938 besprochen. Man musste sich diesmal auch den Kunstfreunden zuwenden, die den Bedingungen der Reichskunstkammer bisher nicht entsprochen hatten, auch sie mussten nun aus den Mitgliederlisten entfernt werden.
Insgesamt handelte es sich um 10 Stifter, 3 Gründer, 15 außerordentliche Mitglieder, 4 Förderer, 58 Teilnehmer und 9 Freunde. Nach dieser Arisierungsaktion blieben in der Genossenschaft 7 Ehrenmitglieder, 6 Stifter, 5 Gründer, 30 außerordentliche Mitglieder, 14 Förderer, 112 Teilnehmer, 21 Freunde und 176 ordentliche Mitglieder, insgesamt also 370 Personen. Zehn Personen, die bisher nicht reagiert hatten, von denen man aber annahm, dass sie Arier seien, wurden gemahnt, darunter Dr. Herbert Freiherr Auer von Welsbach, Wolfgang Baron Klimburg und Richard von Schoeller.
Abbildung 400. Mahnschreiben vom 4. Oktober 1938.
In der Hauptversammlung am 6. Dezember 1938 wurden zwei Mitglieder aufgenommen – es waren dies die ersten Neuaufnahmen seit März. Um die durch die Arisierung aufgetretenen Verluste auszugleichen, immerhin etwas über 25 % der bisherigen Mitglieder, begann man um diese Zeit von der Notwendigkeit einer Werbekampagne zu sprechen. Den in dieser Hauptversammlung zitierten Zahlen ist zu entnehmen, dass sich seit dem Anschluss die Anzahl der Teilnehmer von 188 auf 109 verminderte, die Anzahl der Förderer von 23 auf 11, die der Freunde von 35 auf 27.
Mit dem 31. Oktober 1938 hatte die Genossenschaft: 7 Ehrenmitglieder, 6 Stifter, 4 Gründer, 189 ordentliche Mitglieder (114 Maler, 39 Bildhauer und 36 Architekten), 30 außerordentliche Mitglieder, 11 Förderer, 109 Teilnehmer und 27 Freunde. Das ergab insgesamt 383 Personen gegenüber 508 im Vorjahr, der Verlust betrug 125 Personen, d. h. mehr als 25 %.
Am 13. Dezember 1938 wurde in der Sitzung der kommissarischen Leitung eine Weisung der Reichskunstkammer vorgelesen, wonach von nun an Juden zu Ausstellungen keinen Zutritt haben sollten. Die Weisung wurde zur Kenntnis genommen, das Hauspersonal informiert.
Mit dem 5. Jänner 1939 wurden die Stiftungen der Genossenschaft freigestellt, ab diesem Zeitpunkt konnte man also wieder die hauseigenen Unterstützungen und Preise direkt auszahlen. Die Genossenschaft selbst wurde am 19. Mai 1939 freigestellt, also erst jetzt wurde ihr Weiterbestand von den Behörden definitiv genehmigt. Aus dem bisherigen Präsidenten wurde dabei der “Vorsitzende”, aus dem Leitenden Ausschuss “Beirat”; später wurde auch der Schatzmeister durch einen “Kassenwart” ersetzt. Die neuen Statuten (mit denen man allerdings bis zum 20. Oktober 1942 bzw. 6. Jänner 1943 noch Probleme hatte) regelten im § 3 die Mitgliedschaftsvoraussetzungen: ordentliche Mitglieder mussten auf jeden Fall Mitglieder der Reichskunstkammer sein. Personen der weiteren Mitgliedergruppen mussten zwar nicht der RKK angehören, aber doch dem Arierparagraphen entsprechen (Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935, RGBl. 1, Seite 1333). Wenn bei dem Betreffenden nur ein Großelternteil Jude oder „jüdischer Mischling“ war, konnte er nicht mehr Mitglied der Genossenschaft werden.
Abbildung 402. Werbeaktion zum Eintritt in das Künstlerhaus vom Februar 1940.