Die neuen Ausländer nach 1918

Der Zerfall der Monarchie brachte den Ausschuss noch vor andere rechtliche Probleme: Wie sollten etwa die Angehörigen der nun fremd gewordenen Nachfolgestaaten behandelt werden? Hans Ranzoni schlug schon am 30. Oktober 1918, zwei Tage(!) nach der Proklamation der Tschechoslowakischen Republik vor, Mitglieder einer anderen Staatsangehörigkeit in die Kategorie der korrespondierenden Mitglieder zu übertragen, unabhängig von ihrem Wohnort. Nur Maler Karl Sterrer riet noch abzuwarten, um die Gesamtentwicklung der Beziehungen zu dem neuen Ausland zu berücksichtigen.

Die folgenden Versammlungen brachten diesbezüglich noch manche heftige Debatte, ja man kam auf die Unterschiede zwischen den Begriffen “Nationalität” und “Staatsangehörigkeit” zu sprechen, Bezeichnungen, die damals nur den wenigsten geläufig waren; die Tschechen prägten auch noch die Bezeichnung “Volkszugehörigkeit”, die dann in den Personaldokumenten ebenfalls eingetragen wurde. Die am 11. Februar 1919 bewilligten Statuten haben die Mitgliedsaufnahme diesbezüglich nicht beschränkt; neu war nur ein Zusatz im § 41, wonach nur die gewählten Funktionäre des Leitenden Ausschusses Angehörige deutsch-österreichischer Nationalität sein mussten. Das war die einzige Konsequenz der neuen Staatenbildungen; für die Genossenschaft ohne praktische Bedeutung. Auch in den folgenden Jahren gab es diesbezüglich kaum Probleme; man dachte bei dieser Bestimmung anscheinend nur, dass alle Ausschussmitglieder deutsch als ihre Muttersprache haben müssten.

Eingehender hat sich mit dieser Problematik Architekt Friedrich Schön auseinandergesetzt, als er am 6. Februar 1919 an den Ausschuss schrieb: “Ich halte das Postulat des Nationaldeutschösterreichertums für ein höchst engherziges. Buchstabengeisterei führt immer zu Unlogik. Es gab in Wien wahrlich genug Männer, die nach der famosen neuen Kategorisierung “zugraste” genannt werden müssten und die auf dem Gebiete der Kunst hervorragendes leisteten. Brauche ich an Hansen, Van der Nüll und Sicardsburg, Schmid, Sonnenthal, Lewinsky etc. etc. zu erinnern? Alle diese wurden nicht nach ihrem Heimatschein gefragt. Unter uns Mitgliedern finden sich zahlreiche mit ausländischen Namen (Darnaut, Ranzoni, Konopa, Holub etc. etc.). Ob sich deren nationales Deutschösterreichertum in allen Fällen auf ein-zwei Generationen zurückverfolgen lässt, ist sehr fraglich… Eine Erklärung, dem deutschösterreichischen Staate als getreuer Bürger anzugehören, hätte zu genügen, jedem Mitgliede volle Gleichberechtigung gegenüber den anderen zu verschaffen”.1

Architekt Schön setzte seinen Brief noch weiter fort; seine Zeilen drücken auch einen angeborenen Komplex aus, der mit der Abstammung Schöns zusammenhing: “Um von meiner bescheidenen Person zu sprechen, bin ich seit 40 Jahren in Wien ansässig und habe in allen Wiener Bezirken Bauten ausgeführt. Mein Name ist ein deutscher; in meinem Elternhause wurde deutsch gesprochen. Trotzdem wäre ich anderen, jüngeren Herren gegenüber nicht “voll” zu nehmen…” Warum sich Schön als nicht für “voll” betrachtete, wurde erst zwanzig Jahre später von tragischer Bedeutung: er war Jude. Doch 1919 interessierte sich dafür noch niemand. Geboren wurde er in Lovasbereny, Ungarn; sein Vorname war Fülöp, ungarisch für Philipp.
Ab Herbst 1918 zählte aber etwas anderes: die neuen Staatsgrenzen. Vor allem Landschaftsmaler waren jetzt plötzlich in ihren gewohnten Reisen beeinträchtigt; viele von ihnen haben ihre bisher frequentierten Sommeraufenthalte und Motivlandschaften verloren. Man brauchte plötzlich Reisepässe, Visa, Aufenthaltsbewilligungen, Devisenzuteilungen, – alles Dinge, die man in der großzügigen Monarchie nicht kannte und die jetzt nur schwer zu bekommen waren. Dazu kamen noch neue bisher unbekannte, brutale nationale Aversionen.

Dass manche Künstler auch in ihrem Inneren Schwierigkeiten mit der neuen politischen Staatenordnung hatten, zeigt ein Curriculum vitae des Bildhauers Hugo F. Kirsch vom 14. Juni 1921: “Geboren in Haindorf, Böhmen, zuständig nach Neustadt a. d. Tafelfichte. Bin seit 1898 in Wien, habe (für Österreich) optiert und wohin ich jetzt gehöre, weiß ich nicht.”2